Der Mainzer Althistoriker Theodor Kissel schreibt in der EPOC 05/2011 ("Den Sohn zieht man auf, die Tochter setzt man aus") über Kinderaussetzungen in der Antike. Diese waren Teil der Familienplanung. Die Römer entwickelten hierbei sogar ein Ritual: Nach der Geburt legte die Hebamme das Neugeborene vor die Füße des Vaters. Ließ das Familienoberhaupt das Kleine liegen, wurde ausgesetzt. Hob er es auf, wurde es in der Familie groß gezogen (S. 79).
Teils handelten Arme so wegen purer Überlebensangst. Wohlhabende wohl eher aus Sorge um das Erbe. Hinsichtlich des Geschlechts bringt es der griechische Komödienschreiber Poseidippos (ca. 300 v. Chr.) auf den Punkt:
"'Den Sohn zieht man auf, auch wenn man arm ist, die Tochter hingegen setzt man aus, auch wenn man reich ist.' (...) Auf dem Papyrus »Oxyrhynchos 744« aus dem Jahr 1 v. Chr. etwa schreibt ein angehender Vater an seine hochschwangere Frau: 'Wenn du gebierst, was nun in Bälde der Fall sein wird, lass das Baby leben, falls es männlich ist. Falls es weiblich ist, setze es aus.'" (S. 80)

 Viele Eltern hofften wohl, nachdem sie das Kind an öffentlichen Plätzen oder Müllhalden ablegten, dass diese von jemandem gefunden würden. So gab es in Rom eine columna lactaria (Milchsäule), wo vom Staat angestellte Ammen einige der Kinder säugten. Th. Kissel beschreibt weiter, dass die ausgesetzten Säuglinge auch vielen unlauteren Geschäftemachern anheim fielen (S. 82f).

Nimmt man diese Ausführungen als Kontrastfolie für Hesekiel Kapitel 16, so wirkt das Handeln YHWHs noch gnadenreicher. YHWH nimmt ein Mädchen auf, zieht es groß, verschafft ihr eine Identität. Rechtlich wird sie sein Kind.
In einer zweiten Metapher wird sie seine Ehefrau, die sich aber die Erbarmungen ihres Vaters bzw. Ehemannes vergessend anderen Männer hingibt. YHWH bringt Gericht über sie, am Ende aber denkt er an den (Ehe-)Vertrag in der Jugend und erbarmt sich wieder.


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